Anstöße zur Urteilsbildung in Zeiten der Coronapandemie

Albrecht Hüttig

Vorbemerkung

Wie soll die Ausbreitung der Coronapandemie am effektivsten verhindert werden? Die Diskussion über die Folgen der Pandemie und über konträr diskutierte Maßnahmen beschäftigt die Kontinente. Die folgenden Ausführungen haben zum Ziel, der Frage nachzugehen, wie eine komplexe und faktenfundierte Auseinandersetzung mit dieser Thematik stattfinden kann.

Steiners Aussagen zur Pockenepidemie und zu Infektionskrankheiten im allgemeinen werden in den Diskurs ohne Präjudizierung einbezogen. Dazu wird eine kurze wissenschaftshistorische Übersicht einleitend skizziert. Einige Aspekte der aktuellen Debatte, die sachlich, kontrovers und polemisch bis aggressiv verläuft, werden darauf folgend aufgezeigt. Längere Passagen aus Steiners Vorträgen schließen sich an. Sie führen unter dem Gesichtspunkt, was daraus epistemologisch für das Hier und Jetzt gefolgert werden kann, zu einer thesenartigen Kommentierung. Der Rezeptionsart, Äußerungen Steiners normativ in die Gegenwart zu übertragen, wird eine Absage erteilt, da sie dem erkenntnistheoretischen Ansatz der Anthroposophie selbst widerspricht. Steiner hat diesen methodischen Ansatz vielfältig entwickelt und dabei den Wissenschaften mit ihrem Bestreben um Exaktheit prinzipiell einen hohen Stellenwert eingeräumt und sie kritisch reflektiert. Speziell in der anthroposophisch orientierten Medizin – als Ergänzung und Erweiterung der konventionellen Medizin verstanden - forderte er u.a., »mehr Wissenschaft zu haben, um zu einer wirklich rationellen, das heißt, auch durchschaubaren Erkenntnis des Zusammenhanges zwischen Pathologie und Therapie zu kommen.« Forschung in der anthroposophisch orientierten Medizin findet statt, auf akademischem Niveau mit entsprechenden Studien. Die Medizinische Sektion am Goetheanum verfasst regelmäßige Publikationsübersichten.

Anthroposophie wird auch in diesem Beitrag nicht als ein Lehrgebäude verstanden, sondern als eine wissenschaftlich begründete Methode, mit der Einsichten gewonnen werden können, denn »Geisteswissenschaft beruht nicht auf Autorität, sondern auf Kenntnis der Sache.« [1]

Wissenschaftsgeschichtlicher Kontext der Coronapandemie – eine Skizze

Seit dem Auftraten der Coronapandemie sind Pan- und Epidemien mit wachsender Intensität zu einem größeren und teilweise öffentlichen Thema geworden. Angesichts der Hunderttausenden Infizierter und Toter, die mit und an der Coronapandemie verstorben sind [2], hat die Rückbesinnung auf die bisher aufgetretenen Epidemien und Pandemien enorm zugenommen. So ist zum historischen Kontext der Coronapandemie daran zu erinnern, dass Epidemien und Pandemien die Geschichte permanent begleiten und schon vor Jahrtausenden auftraten. Häufig handelt es sich um Zoonosen. So wird heute vermutet, dass auch die Masern, deren erstes Auftreten ins 6. Jhdt. v. Chr. datiert wird, einen solchen Ursprung als Zoonose haben, d.h. menschliche Kultur kommt bei größeren Agglomeration mit der Tierwelt in eine enge räumliche Nähe, wodurch Krankheitserreger auf den Menschen übertragen werden können.

Die Pestpandemien der Spätantike, des Mittelalters, Chinas vor ca. 2000 Jahren und im 19. Jhdt. etc. sind ebenso als Zoonosen einzustufen. Vor kurzem ist es gelungen, den ältesten analysierte Genstamm des Bakteriums Yer-sinia pestis bei Skeletten eines Doppelgrabes zu identifizieren. Die Grabanlage weist ein Alter von 3600 Jahren auf und befindet sich in Russland. [3]

Bei Röteln, erst im 19.Jhdt. aufgetreten, ergibt sich ein ähnliches Bild und erst recht bei Covid-19 - ein Ausdruck oder Produkt der ökologischen Krise, welche die Lebensräume der Tierwelt bedroht, zerstört oder zur Anpassung zwingt: Zoonosen sind eine Folge davon. [4] Markus Schulze, der molekularbiologische Phänomene im Zusammenhang mit SARS CoV-2 und anderen Krankheitsverursachern aufzeigt, ist in seinem Beitrag auch auf diesen Aspekt differenziert eingegangen, ebenso Thomas Hardtmuth und Albrecht Schad. [5]

Die Mutationen des Pockenvirus konnten vor kurzem anhand von Skelettanalysen bis in die Wikingerzeit zu-rückverfolgt werden. Es spricht auch einiges dafür, die Pockenerkrankung als eine weitere Varianten der Zoonosen einzuordnen. Pockenepidemien traten höchstwahrscheinlich bereits in der Antike auf, sie waren der Medizin des alten Chinas bekannt. Pocken - die wie Typhus und andere durch die europäischen Entdecker und Eroberer der mittelamerikanischen Kulturen eingeschleppte Krankheitserreger unzählige Todesopfer unter der indigenen Bevölkerung verursachten - führten bereits im 18. Jhdt. zu ersten erfolgreichen Impfungen, im 19. Jhdt. zur Impflicht in einigen europäischen Staaten. Pockenerkrankungen und Hygienemaßnahmen zu deren Eindämmung sowie eine spezifische Impfpraxis waren zu Lebzeiten Steiners aktuell. [6]

In dieser Zeit vor über 100 Jahren war z.B. der Begriff bzw. waren die Phänomene der Epigenetik weitgehend unbekannt. Die Genetik wurde erforscht, sie erzielte aber die mit der Entdeckung von DNA und RNA in den Fünfziger-Jahren des letzten Jhdt. einen Durchbruch. Molekularbiologie und Immunologie existierten damals nicht in der Differenziertheit, die uns heute geläufig erscheint. Das ist nicht deswegen ins Bewusstsein zu nehmen, damit der Eindruck entstehen sollte, die Forschung sei vor über 100 Jahren einfach oder rückständig gewesen. Nein, die Forschungsentwicklung ist schlicht weitergegangen und wird das auch weiterhin tun. Das liegt in der Natur der Sache - was nicht impliziert, dass dadurch die Einsichten und Erkenntnisse per se besser würden. Wohin eine materialistische und rassistische Anthropologie geführt hat, ist bekannt. Missbildungen und hohe Säuglingssterblichkeit durch Contergan haben Folgen bis in die Gegenwart. Antibiotika zeitigen unbestritten therapeutische Erfolge, wegen der zu häufigen Verwendung in den letzten Jahrzehnte sind sie gegen zunehmend multiresistente Bakterien wirkungslos, um drei Beispiele anzuführen [7]. Forschung rechnet immer mit Fehlern und Irrtümern. Sie ist nie umfassend eindeutig, widerspruchsfrei oder gar letztendlich abschließend. Sie eröffnet, wenn sie auf Komplexität ausgerichtet ist, neue Horizonte. wie diesen, welcher die hier angesprochene Thematik betrifft:

»Die aktuelle Forschung zeigt zunehmend, dass Menschen nicht in erster Linie aus »menschlichen« Zellen bestehen, in die gelegentlich Mikroben eindringen. Der Körper ist in Wirklichkeit ein Superorganismus aus Zellen, Bakterien, Pilzen und vor allem Viren. Studien zufolge ist möglicherweise die Hälfte aller biologischen Materie in unserem Körper nicht menschlich« so jüngst David Pride. [8]

Aspekte kontroverser Diskurse und Polemiken in aktueller Coronazeit

Die aktuell offen ausgetragenen Diskurse der Virolog*innen zur Coronapandemie zeigen die dynamischen Prozesse wissenschaftlicher Aktivitäten: Dateninterpretationen aus einer Fülle von Phänomenen vorzunehmen, offenen Fragen nachzugehen, spezifische Untersuchungen durchzuführen, um Unbekanntes besser erfassen zu können, die ca. 12 000 Mutationen von Sars-CoV-2 bezüglich des Pandemiegeschehens ansatzweise zu unter-suchen, aus bisherigen Analysen Prognosen mit ihren immanenten Unabwägbarkeiten abzuleiten etc. Diese Diskurse so verfolgen zu können, ist außergewöhnlich. Gerade für Laien auf dem Gebiet der Virologie bedarf es der Besonnenheit und der Informationen aus seriösen Quellen, um ansatzweise urteilsfähig zu werden.

Überlagert werden diese Diskurse vom Pandemiegeschehen selbst mit seinen Auswirkungen, weil a) Regierungen Eindämmungsmaßnahmen zum Schutz der Bevölkerung durchführen müssen – in Deutschland eine verfassungsrechtlich begründete Norm -, die b) von Teilen der Bevölkerung sowohl gefordert als auch kritisiert werden, und c) von Coronarelativierern und –leugnern (u.a. »Querdenker«) ideologisch bekämpft werden. Als Verschwörungsmythologen negieren sie die Existenz der Pandemie. Einige »Querdenker« schrecken auch nicht vor Angriffen gegen Virolog*innen zurück und versuchen, Gesundheitsämter gezielt von ihrer Arbeit abzuhalten. Der Verfassungsschutz Baden-Württemberg nimmt die Organisatoren der »Querdenker« unter Beobachtung, da sie mit »Reichsbürgern« und weitere rechtsextreme Akteure in Verbindung stehen. [9]

Die Hygieneschutzmaßnahme, Masken zu verwenden, ist zu einem Kampfplatz geworden, deren Befürworter und Kritiker sich oft wie Parteien gegenüberstehen. Während die einen die Maske als berechtigt ansehen, tragen die anderen psychologische, pädagogische und politische Gesichtspunkte vor, die gegen die Maske sprechen. Zentral ist jedoch die Frage, was über den inexistenten, vermeintlichen oder tatsächlichen Maskenschutz an fundierten Erkenntnissen vorliegt. Denn Meinungen ohne objektivierbare Phänomene führen nicht weiter. Die global verfügbaren Analysen und Daten über Pandemieausbreitung und Maskenverwendung hat Lynne Peeples in der Fachzeitschrift »Nature« zusammengefasst. Trotz quantitativ geringer Datenmengen – Studien befinden sich noch in Arbeit und offene Fragen bestehen - gilt eine Schutzwirkung als erwiesen, die aber nie vollständig sein kann. Der Artikel beginnt mit einer Aussage und einer anschließenden Frage: »The science supports that face coverings are saving lives during the coronavirus pandemic, and yet the debate trundles on. How much evidence is enough?« Medizinische Fachverbände kommen aufgrund wissenschaftlicher Erkenntnisse u.a. zu dem Ergebnis: »Für Kinder gibt es kaum Daten zu möglichen unerwünschten Wirkungen von Masken… Umfangreiche Erfahrungen bei Kindern mit akuten oder chronischen Erkrankungen in Kinderkliniken und Spezial-ambulanzen zeigen, dass diese nach einer altersgemäßen Erklärung zu Funktion und Sinn des Tragens einer Maske keine Probleme damit haben.« Radikalisierte Maskengegner ignorieren oder negieren solche Gesichtspunkte vollkommen und gehen Maskenbefürworter aggressiv an.

Die Pandemie ist zum Politikum geworden. [10]

Schlussendlich sei noch darauf hingewiesen, dass Impfstoffentwicklungen eine höchst komplexe Forschungsherausforderung darstellen und Qualitätsstandards erfüllen müssen, an die vor 100 Jahren noch nicht zu denken war. Eine vollständige Garantie oder Bedenkenlosigkeit gab und gibt es bei Impfstoffen nicht. Das betrifft ebenso die Entwicklung der Covid-19-Impstoffe – hier sind noch viele Fragen offen. Auf dem Gebiet der Impfstoffe sind, wie nicht anders zu erwarten, Fortschritte und Fehlentwicklungen zu vermerken. So kann z.B. der bisher verwendete Polioimpfstoff in sehr seltenen Fällen Polio verursachen, das Virus hat eine Mutation durchlaufen – an einem zuverlässigeren Impfstoff wird daher seit über 10 Jahren geforscht. [11]

Steiners Einschätzungen zu Pocken und Pockenimpfung, zu Infektionskrankheiten und Impfschutz

Wenn wir Steiners Ausführungen oder die seiner Zeitgenossen zur Kenntnis nehmen, sind der damalige Stand der Medizin, diagnostisch wie therapeutisch, die Erfahrungen mit Epidemien und Hygienemaßnahmen, um sie einzudämmen, zugrunde zu legen.

Die im folgenden angeführten drei Textauszüge werden chronologisch angeführt und sind ohne weitere Kontexte der Vortragsgebiete direkt auf die Thematik der Pocken und der Pockenimpfung bzw. der Epidemien und der Schutzimpfungen fokussiert.

1) Rudolf Steiner, Die Offenbarungen des Karma (1910)[12]

… Das Organ der Lieblosigkeit wird im eminenten Sinne getötet - im äußeren leiblichen Sinne - in der Pockenimpfung. Da zeigt sich zum Beispiel folgendes, was geisteswissenschaftlich erforscht ist: In einer Kulturperiode traten die Blattern auf, als die allgemeine Neigung bestand, im höheren Maße Egoismus, Lieblosigkeit zu entwickeln. Da traten die Blattern auf, auch in der äußeren Organisation; das ist so. Man [05] ist in der Theosophie durchaus verpflichtet, die Wahrheit zu sagen.

Nun können wir es begreifen, daß in unserer Zeit der Impfschutz aufgetreten ist. Wir können aber noch etwas anderes begreifen, daß nämlich bei den besten Geistern unserer Zeit etwas wie ein Widerwille gegen Impfung vorhanden ist. Das steht mit einem Inneren in Korrespondenz, das ist das Äußere eines Inneren. Und wir können jetzt sagen: Wenn wir auf der einen Seite das Organ töten, hätten wir auch die Verpflichtung [10], als Gegenstück dazu bei diesem Menschen den materialistischen Charakter durch eine entsprechende spirituelle Erziehung anders zu gestalten. Das müßte das notwendige Gegenstück sein. Wir leisten sonst nur halbe Arbeit. Ja, wir leisten nur eine Arbeit, zu der der Mensch selber in einer späteren Inkarnation in irgendeiner Weise wird das Gegenstück schaffen müssen, wenn er das Pockengift in sich hat und die Eigenschaft aus sich herausgeschafft hat, durch die man geradezu hinneigt zur Blatternerkrankung. Hat man [15] die Empfänglichkeit für die Blattern herausgeschafft, so hat man nur die äußere Seite der karmischen Wirksamkeit ins Auge gefaßt. Wenn man auf der einen Seite Hygiene übt, muß man anderseits die Verpflichtung fühlen, den Menschen, deren Organisation man umgewandelt hat, auch etwas für die Seele zu geben. Impfung wird keinem Menschen schaden, welcher nach der Impfung im späteren Leben eine spirituelle Erziehung erhält.

[20] Wir haben die Waagschale zu stark zum Sinken gebracht, wenn wir nur auf die eine Seite abzielen und auf die andere keinen Wert legen. Das fühlt man im Grunde in den Kreisen, wo man sagt: Wo hygienische Maßregeln zu weit gehen, würden nur schwache Naturen fortgepflanzt. Das ist zwar unberechtigt; aber Sie sehen, wesentlich ist, daß man eine Aufgabe nicht ohne die andere übernehmen darf…

2) Rudolf Steiner, Das Verhältnis der Anthroposophie zur Naturwissenschaft. Grundlagen und Methoden (Vortrag 1921)[13]   

… Frage: Wie urteilt Anthroposophie über die Impfung als Schutzmittel gegen Epidemien?

Rudolf Steiner: Diese Frage paßt inhaltlich einigermaßen schlecht zu dem, was vorhin gesagt worden ist. Aber ich will versuchen, doch einiges zu sagen. Es ist nämlich so: Selbstverständlich darf man ja, wie heute schon ausgeführt wurde, keineswegs glauben, daß die Anthroposophie gegen berechtigte Erfolge, die man [05] in den neueren naturwissenschaftlichen Gebieten und der Medizin erzielt hat, polemisiere.

Es kann in manchen Fällen gezeigt werden, daß ein solcher Erfolg, wie er erzielt werden soll durch die Impfung - also zum Beispiel durch die Blatternimpfung -, ja auch tatsächlich erreicht worden ist. Es besteht immerhin die Tatsache, daß die Infektionskrankheiten weitgehend eingeschränkt worden sind durch die mehr äußerlichen, mehr hygienischen Maßregeln, die ja notwendig geworden sind, und durch die [10] Schutzimpfung. Allerdings waren zahlreiche Impfungen nicht so, daß man sagen könnte, sie hätten einen ähnlichen Erfolg gehabt für andere Krankheiten. Aber man muß doch durchaus die Wirksamkeit dieses Prinzips zugestehen.

Auf der anderen Seite ist diese Frage aber doch etwas, was man mehr psychologisch betrachten kann. Es gibt heute sehr zahlreiche Impfgegner. Diese Impfgegner sind eigentlich Parteien, denen man auf einem [15] rationalen Wege in ihrer Psychologie nicht beikommen kann. Es sind Leute, die aus einem inneren Widerstreben heraus gegen die Art, wie da versucht wird zu wirken, handeln. Und sie können aus ihrer Erkenntnis heraus nicht sagen, daß die Impfmethoden wirkungslos sind, denn es liegen ja Wirkungen vor. Und wer sich wehrt, wehrt sich aus einem gewissen Unbewußten heraus gegen diese Methode der Impfung.

Anthroposophie muß von tieferen Gesichtspunkten ausgehen. Wenn man das Krankheitswesen zusammendenkt [20] mit dem, was Ihnen heute hier ausgeführt worden ist, namentlich über die wiederholten Erdenleben, wenn man davon überzeugt ist, daß es wiederholte Erdenleben gibt, dann muß man ja auch das, was der Mensch erlebt im jetzigen Leben an Krankheitsfällen, zusammenbringen mit dem, was er erlebt hat in einem vorigen Erdenleben. Wenn man das erst einsehen wird, wenn man den Willen hat, das einzusehen, ganz unbeschadet dessen, was etwa in der Epidemiologie gesagt wird, in der Infektionswissenschaft, ganz unbeschadet [25] dessen, muß man wissen, daß ein gewisser Zusammenhang besteht zwischen dem, was der Mensch durchgemacht hat in einem früheren Erdenleben, und dem, was geschieht, wenn er sich jetzt aussetzt einer bestimmten Infektion. Man sagt, etwas geschieht durch Zufall. Aber es wird nicht zugegeben, daß aus dem Unterbewußten heraus der Mensch dorthin getrieben wird, wo er dann mit der Infektionsgeschichte in Berührung kommt. Unbeschadet von manchem, was er dadurch erleben kann, kann man noch [30] zu manch anderen Anschauungen kommen von dem, was mit einer Krankheit zusammenhängt.

Wenn eingesehen wird, daß gewisse Krankheiten etwas mit den Seeleneigentümlichkeiten des Menschen zu tun haben, in gewisser Beziehung eine Überwindung dessen sind, was der Mensch in einem vorigen Erdenleben nicht hat erreichen können und daß diese physischen Krankheitsprozesse, die man aushalten muß, ein Ausgleich sind - der Krankheitsprozeß ist auch mit seelischen Erscheinungen verknüpft -, dann [35] kann man auch verstehen, warum aus einem gewissen Unbewußten, Instinktiven heraus manche einen Widerwillen haben gegen dieses Heilelixier. Sie sagen sich eigentlich unbewußt, daß bei dem, was da als Krankheit vorhanden ist, parallel gehen müßte mit der äußeren Heilung auch eine innere seelische Weiterentwicklung zum Geiste hinauf. Und wenn die Impfung, die man anwendet, es ermöglicht, daß die Dinge ganz so gelingen, wie man es sich vorstellt, müßte man dennoch sagen: Auch wenn man es durch [40] entsprechende Verfahren fertigbringt, daß alle Epidemien erlöschen, daß man die Krankheiten einschränkt, so fragt es sich aber doch, ob nicht auch noch etwas anderes notwendig ist, was diesem Prozeß sozusagen dadurch entgegenkommen muß, daß zu gleicher Zeit eine innere seelische Entwicklung zum Geistigen hin erfolgt. Das müßten die Menschen einsehen, daß ein solches Verfahren möglich ist. Man kann alles anerkennen, was die Wissenschaft sagt, nur muß man sich über die Notwendigkeit klar sein, daß gegenüber dem, was [45] als äußeres Heilverfahren vorhanden ist, noch etwas dasein muß, was die Seele auf innerem Wege vorwärtsbringt und was auf frühere geistige Zusammenhänge hinweist, auf frühere Leben. Anthroposophie wird nie etwas einzuwenden haben gegen das, was die Naturwissenschaft bringt…

3) Rudolf Steiner, Physiologisch-Therapeutisches auf Grundlage der Geisteswissenschaft (1924)[14]

… [Frage:] Welches sind die Bedingungen für das Zustandekommen einer Pockenepidemie? Es scheint, daß diese Krankheit ihren bösartigen Charakter eingebüßt hat. Ich habe solche Fälle beobachtet. Was sagt die Geisteswissenschaft zur Impfung?

[R.Steiner:] Bei dieser Sache, wie bei der Pockenkrankheit, hat man es bei den einzelnen Menschen zu tun [05] mit einem starken Zurücktreten der Ich-Organisation von allen drei anderen Menschenleibern, sowohl von dem physischen wie dem Äther- und dem Astralleibe. Dieses starke Zurücktreten, dieses Schwachwerden der Ich-Organisation, das kann darauf beruhen, daß der Mensch gewissermaßen hineinschlüpft stark mit seinem gegenwärtigen Ich in die Iche der früheren Erdenleben; und es ist dadurch eine starke Affinität der Ich-Organisation überhaupt zur geistigen Welt vorhanden. Und merkwürdig bei Pockenkrankheit ist, daß [10] da eine gewisse Ähnlichkeit vorliegt mit dem, was der Mensch durchmacht, wenn er gewisse Arten der Initiation durchmacht. So sonderbar das erscheint, es ist so.

Wenn der Mensch kennenlernt zum Beispiel, wirklich innerlich kennenlernt die Wirksamkeit der Tierkreisgestalten auf den Menschen, so sind solche Erkenntniszustände mit starken inneren Erschütterungen verknüpft. Da kann wenigstens der Mensch durchmachen, indem es mehr beherrscht, mehr seelisch wirkt, das, [15] was bei der Pockenerkrankung vorliegt, weil es sich darum handelt, daß bei der Pockenerkrankung der Mensch sehr stark im Geistigen drin lebt, wenn auch auf andere Art.

Man kann sagen, daß die Ansteckungsgefahr doch eine außerordentlich starke ist bei der Pockenerkrankung. Nur sollte man nicht so leichtsinnig sein, just immer gleich an physische Vermittlung zu denken bei der Übertragung, sondern es sind sogar bei der Pockenerkrankung besonders stark vorliegend die [20] psychischen Anlagen. Dafür könnte ein Beweis der sein, daß man sich sehr gut schützen kann, wenn man in der Lage ist, sich in rechter Art abzuschließen. Ich darf darüber deshalb sprechen, weil ich einmal als zweiundzwanzigjähriger Mensch - die Umstände brauche ich nicht zu erwähnen - einen Schüler unterrichtet habe, dessen Mutter mit schwarzen Pocken unmittelbar daneben lag, nur durch eine spanische Wand getrennt von der Stube, in der ich meinen Unterricht gab. Ich habe nichts dagegen gemacht, habe den Unterricht [25] die ganze Zeit fortgesetzt, bis die Mutter wieder gesund geworden ist. Aber ich habe das ganz gern getan, namentlich auch, um zu sehen, wie man sich schützen kann, wenn man absolut den Pockenkranken, also auch den an schwarzen Pocken Erkrankten, nimmt ganz objektiv wie ein anderes Objekt, wie einen Stein oder einen Strauch, dem gegenüber man gar keine weiteren Furchtgefühle noch sonst psychische Regungen hat, sondern ihn nimmt als eine objektive Tatsache. Da ist in der Tat der Ansteckungsgefahr in hohem Maße [30] zu begegnen. Daher kann schließlich der psychische Faktor auch bei der Ansteckung stark mitspielen.

Ich habe mich überhaupt niemals davor gescheut, irgendwie mich selber einer Ansteckungsmöglichkeit auszusetzen, und bin eigentlich nie angesteckt worden, habe nie unter Ansteckung einer Krankheit gelitten. Ich konnte dadurch gerade feststellen, daß schon einfach das Bewußtsein, das starke Bewußtsein von dem Dasein einer Krankheit vom Astralleib aus Krankheitsursache sein kann. Das starke Bewußtsein einer Krankheit [35] kann vom Astralleib aus Krankheitsursache sein.

Und die Pockenimpfung? Da ist man in einem eigentümlichen Fall. Sehen Sie, wenn man jemand impft und man hat den Betreffenden als Anthroposophen und erzieht ihn anthroposophisch, so schadet es nichts. Es schadet nur denjenigen, die mit vorzugsweise materialistischen Gedanken heranwachsen. Da wird das Impfen zu einer Art ahrimanischer Kraft; der Mensch kann sich nicht mehr erheben aus einem gewissen [40] materialistischen Fühlen. Und das ist doch eigentlich das Bedenkliche an der Pockenimpfung, daß die Menschen geradezu mit einem Phantom durchkleidet werden. Der Mensch hat ein Phantom, das ihn verhindert, die seelischen Entitäten so weit loszukriegen vom physischen Organismus wie im normalen Bewußtsein. Er wird konstitutionell materialistisch, er kann sich nicht mehr erheben zum Geistigen. Das ist das Bedenkliche bei der Impfung. Natürlich handelt es sich darum, daß da die Statistik immer ins Feld geführt wird.

[45] Es ist die Frage, ob eben gerade in diesen Dingen auf die Statistik so viel Wert gelegt werden muß. Bei der Pockenimpfung handelt es sich sehr stark um etwas Psychisches. Es ist durchaus nicht ausgeschlossen, daß da der Glaube, daß die Impfung hilft, eine unberechenbar große Rolle spielt. Wenn man diesen Glauben durch etwas anderes ersetzen würde, wenn man naturgemäß erziehen würde die Menschen, so daß sie beeindruckbar wären durch etwas anderes als dadurch, daß man sie impft, etwa dadurch, daß man die Menschen wiederum an den Geist näher heranbrächte, so wäre es durchaus möglich, daß man gegen das [50] unbewußte Hereindringen: hier ist Pockenepidemie! - durch vollständiges Bewußtsein davon: hier ist ein Geistiges, wenn auch ein unberechtigtes Geistiges, gegen das ich mich aufrechthalten muß! - ebenso gut wirken würde, wie man überhaupt den Menschen stark machen müßte gegen solche Einflüsse.

[Frage] Wenn die Verhältnisse so liegen, wie zum Beispiel in unserer Gegend, wo die Einwirkung durch die Erziehung und so weiter sehr schwierig ist, wie soll man sich da verhalten?

[55] [R.Steiner:] Da muß man eben impfen. Es bleibt nichts anderes übrig. Denn das fanatische Sichstellen gegen diese Dinge ist dasjenige, was ich, nicht aus medizinischen, aber aus allgemein anthroposophischen Gründen, ganz und gar nicht empfehlen würde. Die fanatische Stellungnahme gegen diese Dinge ist nicht das, was wir anstreben, sondern wir wollen durch Einsicht die Dinge im Großen anders machen.

Ich habe das immer, wenn ich mit Ärzten befreundet war, als etwas zu Bekämpfendes angesehen, zum [60] Beispiel bei Dr. Asch, der absolut nicht geimpft hat. Ich habe das immer bekämpft. Denn wenn er nicht impft, so impft eben ein anderer. Es ist ein völliges Unding, so im einzelnen fanatisch vorzugehen…

Epistemologische Ansätze und Konsequenzen

Folgerungen und Denkanstöße, welche sich aus den angeführten Äußerungen Steiners ableiten lassen, werden thesenartig formuliert, wobei sich das Methodologische aus den konkreten Inhalten ergibt.

Zu 1):

Die These lautet: Das Auftreten der Pocken sei ein Phänomen, das in Analogie zur menschlichen Haltung mangelnder Empathie stehe, die im Physischen verankert sei. Pockenerkrankungen helfen, die materielle Grundlage der »Lieblosigkeit« zu zerstören, die Pockenimpfung habe die gleiche positive Wirkung (Z.1-4, 13 f.). (Pocken)Impfgegner stellen sich gegen den Impfschutz. Ihre Ablehnung – wie eine Antithese dargelegt – wird nicht verurteilt (Z. 6 f.). Die Synthese lautet: Die äußere Maßnahme des Impfens verlange einen inneren Ausgleich. Die Impfung greife bis ins Physische materiell ein, die Erziehung als Ausgleich sorge dafür, dass sich die Tendenz des Menschen zum Materiellen nicht einseitig auspräge (Z. 10 ff.). Damit werde Karmisches, das sich der Mensch vorgenommen hat, erfüllt.

Steiners Urteil lautet, dass die positive Wirkung aus Pockenimpfung mit begleitender Hygiene (Z.16) und Erziehung, die geistige Dimensionen einbezieht, resultiert. Er warnt vor Einseitigkeiten und erteilt der sozialdarwinistischen Position, Hygienemaßnahme seien zu begrenzen, sonst würden »schwache Naturen« überleben (Z. 21 f.), eine Absage.

Die holistische Betrachtung des Menschen, die Erkenntnis, dass der Mensch weder rein physisch, noch rein seelisch oder rein geistig existiert, kommt hier zum Tragen. Wenn man diese Auffassung nicht teilt und von einer anderen Anthropologie ausgeht, bleiben Steiners Ausführungen hypothetisch oder relevanzlos.

Zu 2):

Steiner beantwortet die explizite Frage zu Epidemien mit mehreren Begründungen und stellt als Ausgangspunkt seiner Argumentation klar, dass die Anthroposophie positive Entwicklungen in der Medizin anerkennt. Die Epidemiebekämpfung wäre meistens erfolgreich, und zwar durch Hygienemaßnahmen und Schutzimpfungen, so seine Position (Z. 2-12).

Impfgegner anerkennen die offensichtlichen Erfolge nicht an. Ihre Überzeugung sei keinem rationalen Erkenntnisvorgang entsprungen, weshalb mit ihnen nicht argumentiert werden könne, ihre Ablehnung entspringe keinem bewussten Vorgang (Z. 12-18).

Nur unter der Prämisse, dass die Reinkarnation als real angenommen werde, ergebe sich ein Zusammenhang aus einer gegenwärtigen Infektionskrankheit mit vorherigen Inkarnationen eines Menschen. Dieser Zusammenhang sei nicht auf der gleiche Bedeutungsebene anzusiedeln wie das, was die Epidemiologie an Erkenntnisse vorzuweisen habe (Z. 19-30).

Jede Krankheit habe eine Bedeutung für das Seelische des Menschen. Wenn die Krankheit eliminiert würde, wenn es keine Epidemien mehr gäbe, der Mensch also an ihnen keine spezifischen, karmisch bedingten Erfahrungen machen könnte, bedürfe es der Ergänzung, damit sich das Seelische zum Geistigen entwickeln könne. Ob Impfgegner beides – Impfung und seelisch-geistig Ausgleichendes - einsehen könnten, bleibt offen.

Steiners Gedankenführung ist hier mit der zu 1) festgestellten analog. Die positive Wirkung von Impfungen und Hygienemaßnahmen wird vorbehaltlos ausgesprochen, es handelt sich um medizinische Fortschritte. Impfgegner werden dazu aufgefordert, ihre Einwände aufzugeben, da sie – wenn auch nicht klar erkannt – entkräftet werden, wenn der Mensch ganzheitlich gesehen und entsprechend gefördert wird.

Zu 3):

Steiner geht bei der Beantwortung der Fragen explizit von Pockenerkrankten aus mit Bezug zu dem, was als Wesensglieder angesehen wird. Im Krankheitsfall verbinde sich das Ich zu wenig mit den Lebensprozessen, orientiert sich in die Vergangenheit seiner Inkarnationen und erlebe in physisch heftiger Weise eine Art Einweihungsvorgang (Z.4-16).

Die Ansteckungsgefahr durch Pocken hänge auch von der psychischen Disposition ab. Ängste und seelische Verunsicherung begünstigten das Infektionsrisiko, sich Erkrankten gegenüber mit seelischer Ausgeglichenheit auf Distanz zu halten, reduziere es. Steiner erwähnt dazu seine biographischen Erfahrungen (Z. 17-35).

Die Pockenimpfung, so der argumentative Anschluss an die erste Begründung, tendiere dazu, den Menschen zu materiell werden zu lassen, so dass er zu sehr im physischen Leib verhaftet bleibe. Das Motiv eines seelisch-geistigen Entwicklungsausgleichs taucht wieder auf. Verbunden wird es explizit mit der Erziehung – Waldorfpädagogik dürfte gemeint sein. Sie eliminiere die einseitige Impfwirkung (Z. 36-44).

Steiner spricht eine Hypothese aus, die auf der Überzeugung basiert, dass die positive Einstellung zur Impfung (»Glaube«) eine verstärkende Wirkung aufweist: Die bewusste, durch Erziehung ermöglichte Hinwendung des Menschen zum Geistigem könnte einer Epidemie wie eine Gegenkraft entgegentreten (Z. 46-52).

Die darauf erfolgende gezielte Frage manifestiert, dass Steiners Hypothese so nicht als Antwort genügt. Impfen ohne ausgleichende Pädagogik? (Z. 53 f.). Steiners Antwort lautet eindeutig: Die Pockenimpfung ist durchzuführen. In seinen Formulierungen taucht das Attribut »fanatisch« dreimal auf (Z. 55,57, 61). Fanatische Impfgegner handelten sowohl gegen die medizinische Errungenschaft der Impfung gegen Pandemien als auch gegen die Anthroposophie - Anthroposophie bekämpfe Fanatismus (Z. 60). Fanatischen Ärzt*innen spricht Steiner die medizinische Kompetenz ab.

Was zeitigt eine solche Betrachtung?

Anthroposophie geht wissenschaftlich vor. Sie reflektiert die Phänomene unter gestuften Betrachtungsebenen vom Physischen über das Lebendige zum Seelischen und Geistigen. Sie differenziert die jeweiligen Resultate und erfasst so Komplexitäten, da sie von der Annahme ausgeht, dass Welt, Kosmos und Mensch selbst komplexer Natur sind. Daraus leitet sie Handlungsoptionen ab, die auf die jeweilige Ebene der Komplexität differenziert ausgerichtet sind. Reduktionismus ist ihr fremd, sowohl in den Natur- wie in den Sozialwissenschaften. [15] Steiner exemplifiziert das in den angeführten Textauszügen. Das gilt in diesem Zusammenhang auch für seine Hinweise, dass Lebenseinstellungen und psychische Dispositionen bei Krankheiten relevant sind und ihrerseits von Krankheiten tangiert werden – das Immunsystem weist diese Wechselbezüge auf. Er hat in gewisser Weise antizipiert, was heute in der Medizin als gesicherte Erkenntnisse angesehen wird: »Nicht nur die Psyche macht den Körper krank, sondern auch umgekehrt – das wird inzwischen immer deutlicher. Eine wichtige Rolle spielt dabei das Immunsystem.« [16] Dass psychischer und physischer Schmerz identische Hirnareale aktivieren, ist ein weiteres Forschungsergebnis für die psychosomatischen Wechselbeziehungen. Ebenso der Placebo-Effekt, bei dem die subjektive Einstellung zur Therapie die dominante Rolle spielt, die in den Körper wirkt. Obwohl die verabreichte Medizin wirkungslos ist (z.B. Kochsalz), treten nachweislich Heil- oder Schmerzlinderungsprozesse auf. Dieser Effekt wird auch als eine »Heilkraft des Nichts« umschrieben. Sie wirkt bis ins Immunsystem. »Wir kennen heute kein System im Körper, für das keine Placebo-Effekte beschrieben sind«, so Ulrike Bingel vom Universitätsklinikum Essen. Auch der umgekehrte Fall ist nachgewiesen: Patienten entwickeln gegen das verschriebene Medikament eine große Abneigung, was den Nocebo-Effekt hervorruft. Dieser »kann so stark sein, dass er die eigentlich vorhandene Wirksamkeit eines Medikaments aufhebt … Positive Erwartung verdoppelte darin [in einer publizierten Studie] die Wirkung des Opioids Remifentanil, negative nivellierte sie.« [17] Das komplexe Gebiet der Resilienz weist in die gleiche Richtung, wie Lebensführung und -einstellung sowohl auf den physischen Körper einwirken als auch Lebenskrisen oder Katastrophenerfahrungen leichter bewältigbar werden lassen können, entsprechende Langzeitstudien zeigen solche Resilienzwirkungen auf. [18]

Verkürzt gesagt: In der Medizin ist die menschliche Seele wieder präsent geworden, aus der sie der Materialismus zu Lebzeiten Steiners graduell eliminiert hatte. Das Ich, der Geist des Menschen ist ihr tendenziell noch etwas fremder, die Reinkarnationsidee liegt jenseits ihres Wirklichkeitshorizontes.

Die Coronapandemie verlangt, wenn man es so ausdrücken möchte, dass sie als Infektionskrankheit nach den skizzierten Methoden betrachtet, untersucht und eingeordnet wird. Dieser Prozess ist nicht abgeschlossen, sondern ergebnisoffen. Die Hygienemaßnahmen sind ebenso zu reflektieren, auch hier gibt es neben klaren Erkenntnissen noch ungeklärte Fragen. Die entwickelten Impfstoffe befinden sich in ihrer ersten Anwendungsphase. Ihnen per se skeptisch zu begegnen oder sie als die alleinige Lösungsoption einzustufen, mit der die Pandemie eingeschränkt oder beseitigt werden könnte, ist unangebracht. Es bedarf der bewussten Auseinandersetzung. Entscheidungen wie die jetzt anstehende – sich impfen zu lassen oder nicht – sind individuell. Nur wenn sie begründet, autonom und in sozialer und ökologischer Verantwortung getroffen werden, entsprechen sie dem Anspruch der »Philosophie der Freiheit«.

Dr. Albrecht Hüttig, AK Waldorfschulen für eine offene Gesellschaft – gegen politischen Extremismus und Populismus.


Anmerkungen:

[1] Rudolf Steiner, Anthroposophische Menschenerkenntnis und Medizin, GA 319, S. 61, 138 (Zitat); ders., Philosophie der Freiheit, GA 4; ders. Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten? GA 10; ders., Die Ergänzung heutiger Wissenschaft durch Anthroposophie, GA 73; Peter Heusser, Johannes Weinzirl, Rudolf Steiner. Seine Bedeutung für Wissenschaft und Leben heute, Stuttgart 2014; Albrecht Hüttig (Hrsg.), Wissenschaften im Wandel. Zum Oberstufenunterricht an Waldorfschulen, Berlin 2019, S. 2 ff.; Rudolf Steiner, Die okkulte Bewegung im 19. Jahrhundert und ihre Beziehung zur Weltkultur, GA 254, Dornach 1986, S. 100 Zitat

[2] COVID-19 Dashboard by the Center for Systems Science and Engineering (CSSE) at Johns Hopkins University (JHU); Robert Koch Institut, COVID-19: Fallzahlen in Deutschland und weltweit; Nombre de décès quotidiens. France, régions et départements

[3] Pierre Huard, Mimg Won, Chinesische Medizin, München 1968, S. 27; Harbeck M, Seifert L, Hänsch S, Wagner DM, Birdsell D, et al. (2013) Yersinia pestis DNA from Skeletal Remains from the 6th Century AD Reveals Insights into Justinianic Plague. PLoS Pathog 9 (5), e1003349. doi:10.1371/journal. ppat.1003349; Bislang ältestes Genom der Beulenpest entschlüsselt, 8. Juni 2018

[4] Daniel Lingenhöhl, Zoonosen: Sprangen auch die Röteln von Tieren auf uns über? 9.10.2020; ders., Sind Masern ein Produkt der ersten Großstädte? 19.6.2020; ders., Pandemien: Zerstörung der Natur öffnet Seuchen den Weg, 6.8.2020

[5] Markus Schulze, Sensibles Zusammenleben. Bakterien, Viren und SARS-CoV-2 und wir, Dez 2020; Thomas Hardmuth, Anmerkungen zum CORONA-Syndrom; Albrecht Schad, Die Veränderung der Lebenswelt durch den Menschen und ihre Rückwirkung auf den Menschen, Sept. 2020

[6] Genom von Pockenviren aus der Wikingerzeit rekonstruiert, 31. Juli 2020; Pierre Huard, Mimg Won, Chinesische Medizin, S. 26; cf. Åshild J. Vågene1, Alexander Herbig et al., Salmonella enterica genomes from victims of a major 16th century epidemic in Mexico, 2017; cf. Anzahl der Toten durch Pocken in Deutschland und Österreich je eine Million Einwohner in den Jahren 1866 bis 1899; Sybille Wüstemann, »Der Gestank verwesender Leichen verpestete weite Gebiete«, 8.7.2019

[7] Cf. Albrecht Hüttig (Hrsg.), Kontroversen zum Rassismusvorwurf. Der Diskurs über Rassismus – Rassismus bei Steiner? – Steiners Werk: Editionsgrundsätze, Berlin 2017, S. 14 ff., S. 21 ff.; https://www.contergan.de/; Annika Röcker, Multiresistente Bakterien: Die Antibiotika der Zukunft gibt es schon, 3.5.2020; cf. Hubert Steinke, Medizingeschichte – Geschichte in der Medizin; cf. ferner die Fachzeitschrift Histoire des science médicales

[8] David Pride, Viruses Can Help Us as Well as Harm Us, in: Scientific American 323, 6, S.46-53 (Dez. 2020), übersetzt 

[9] Ewen Callaway, Das Coronavirus mutiert – wie gefährlich ist das? 21.9.2020; GG Art,11,2; Gesetz zur Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten beim Menschen (Infektionsschutzgesetz) §1, §§ 28 ff.; Cf. Mikhail Bushuev, Corona-Krise: Virologen werden zur Zielscheibe, 12. 12.2020; »Querdenken richtet sich gegen die freiheitliche Grundordnung« (Zitat des Innenministers Strobel), 9.12.2020; Dirk Schnack, »Querdenker« rufen auf, Gesundheitsämter lahmzulegen, 14.12.2020

[10] Angela Boschert, »Die Maske ist nicht das, was Kinder irritiert«, Grünwald, 29.10.2020; Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie (DGPI), des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte (bvkj e.V.), der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ), der Gesellschaft für Pädiatrische Pulmologie (GPP) und der Süddeutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (SGKJ) zur Verwendung von Masken bei Kindern zur Verhinderung der Infektion mit SARS-CoV-2 (Stand 12.11.2020); Lynne Peeples, Face masks: what the data say, in: Nature 586, 186-189 (Oct.6 2020), Übersetzung; Maskengegner bedrohen Lehrer, Schulleitungen und Eltern, belästigen Kinder – und dringen in Darmstadt sogar in eine Schule ein, 27.10.2020.

[11] Siehe die Übersicht von Ulrike Gebhardt, Covid-19: Wie wirken die Corona-Impfstoffe? 13.12.2020

[12] Rudolf Steiner, Die Offenbarungen des Karma, GA 120, Dornach 1992, S. 170

[13] Rudolf Steiner, Das Verhältnis der Anthroposophie zur Naturwissenschaft. Grundlagen und Methoden, GA 75, Dornach 2010, S.178 ff.

[14] Rudolf Steiner, Physiologisch-Therapeutisches auf Grundlage der Geisteswissenschaft, GA 314, Dornach 2011, S. 320 ff.

[15] Cf. Albrecht Hüttig, Aspekte zum wissenschaftshistorischen Kontext anthroposophischer Epistemologie, in: ders., Wissenschaften im Wandel, S. 20 ff.; cf. Martin Rozumek, Atomistische und goetheanistische Chemie – komplementäre Betrachtungsweisen einer Wissenschaft, in: Albrecht Hüttig, Wissenschaften im Wandel, S. 91 ff.

[16] Stefanie Reinberger, Somatopsychologie: Kranker Körper – kranke Seele, 26.9.2016

[17] Bettina Sauer, Placeboeffekt. Die Heilkraft des Nichts, 8.11.2007; Annette Mende, Placebo-Effekt. Wirkung ohne Wirkstoff, 15.11.2017

[18] Cf. Andreatta, P. (2018). Trauma und Resilienz: Ein Modell zur psychosozialen Unterstützung Geflüchteter. Fachnetz  Flucht, 1.; Es tut mir in der Seele weh, 29.3.2011; Resilienz schützt bei Kindheitsbelastungen langfristig – auch im Erwachsenenalter, 13.4.2017; Undine Lang, Resilienz, Stuttgart 2019