Im Lockdown Beziehungen aufrechterhalten. Wie eine Waldorflehrerin zur Youtuberin wurde

Angelika Lonnemann

Phase 1: Schüler auf ihrem Handy erreichen und Aufgaben stellen

»Vor der Schulschließung hatte ich noch Aufgaben ausgeteilt, darauf konnte ich mich beziehen. Für meine eigene Klasse und für die achte Klasse, in der ich Mathe unterrichte, habe ich WhatsApp-Gruppen eingerichtet. Weil einige Eltern sich nicht für WhatsApp als Messenger entscheiden mochten, wurde die Kernkommunikation zweigleisig per Mail an die Eltern und per WhatsApp direkt mit den Schülern geführt. Die Eltern konnten immer sehen, welche Aufgaben zu erledigen waren. Per WhatsApp konnten die Schüler Rückfragen an mich stellen.«

Phase 2: Gruppenbindung und Sozialkontakt über die Medien

»Schnell war mir klar, dass ich die Klasse auch sozial zusammenhalten wollte. Neben den Arbeitsaufträgen habe ich daher immer wieder kleine Videos geteilt – humorvolle, aufmunternde Beiträge, die dafür sorgen sollten, dass die Schüler sich nicht einsam fühlen mussten sondern dem Geschehen zuversichtlich neugierig begegnen konnten. (Schließlich sind wir in der siebten Klasse mit den wagemutigen Entdeckern unterwegs, die weder Seeungeheuer noch den Rand der Weltenscheibe fürchten.) Schon bald stellte ich mir vor, wie der Alltag jetzt wohl für die Schüler zuhause wäre – und da habe ich ihnen individuelle 2-Tages-Projekte zur Aufgabe gegeben. Zum Beispiel ein Drei-Gänge-Menü, eine Torte backen oder eine Katzenleiter bauen. Die Zwischenergebnisse und die Ergebnisse haben die Schüler dann fotografiert und mir per WhatsApp geschickt – und ich habe sie dann wieder in die Gruppe gestellt, so dass alle sehen konnten, was die anderen gemacht haben.

Parallel dazu gab es die tägliche Telefonsprechstunde, in der alle Lehrkräfte angerufen werden konnten. Schnell stellte sich heraus, dass ich nicht 30 Kindern einzeln Mathe erklären konnte. In der 7. Klasse ging es um Gleichungen, in der 8. um Körperberechnungen. Also habe ich mir ausgedacht, wie ich zuhause Erklärvideos drehen könnte. Ich habe mir die Webcam meines erwachsenen Sohnes genommen, sie auf dem Schreibtisch über ein Blatt Papier gehängt und dann meine Hand gefilmt, die Gleichungen schreibt oder Körper zeichnet und dazu erklärt. Jedes Mal, wenn eine neue Schüleranfrage kam, habe ich ein neues Video gedreht.

Für Deutsch sollten die Schüler jetzt ganze Bücher lesen und eine Buchbeschreibung machen, hierfür sollten sie in der Cloud in einer Liste eintragen, wie weit sie jeweils gekommen waren. Als weitere Aufgabe sollte sich jeder Schüler ein Programm zum 10-Finger-System-lernen herunterladen.«

Mit ihrer eigenen, der siebten Klasse, kam Stephanie Sell schnell in den Dialog. Sie hatte selbst ein kleines Video gedreht, das ihren Arbeitsplatz im Home-Office-Wohnzimmer zeigte, aber auch ihre Katzen und den Garten. So entstand die Idee, ein gemeinsames Video zu produzieren, in dem alle Schüler einen Ostergruß an die Lehrerkollegen schickten. Diejenigen Schüler, die nicht über WhatsApp mit der Klasse verbunden waren, bekamen Paten – also Mitschüler, die diese Kinder telefonisch mit Informationen versorgten. »So entstand gleichzeitig eine Art Telefonseelsorge, das war sehr schön«, so Sell.

Mit Alexander Mattheus (Geschäftsführer und Physiklehrer) zusammen entstand die Idee, für die 7. und 8. Klasse eine Online-Fragestunde über einen YouTube Livestream zu machen. Also eine Art »Konferenz zur Lage der Nation bzw. der Waldorfschule Augsburg«. »Die Schüler sollten spüren, dass wir für sie da sind, dass wir uns Gedanken machen, dass wir wissen wollen, wie es ihnen geht und wie sie zurechtkommen«, so Sell. Ihr war wichtig, dass die Schüler erleben konnten, dass ihre Schule der »Herausforderung Corona« gewachsen ist und sie stolz auf ihre Schule sein konnten.

Phase 3: Was gibt das Internet alles an sinnvollen Lerninhalten her?

Nach Ostern stellte sich heraus, dass die Schulen noch länger geschlossen bleiben würden. Vor Ostern hatten alle viel gerechnet, nun wollte Stephanie Sell auch andere Unterrichtsinhalte, die sich mit Mathematik verbinden lassen, vermitteln. »Ich begann also, mich bei solchen Youtubern umzuschauen, die Erklärvideos produziert hatten und wurde fündig bei Mr. Wissen to go und Explanity – die hatten Videos zu Globalisierungsthemen gepostet und ich konnte den Schülern Arbeitsaufträge geben, in denen sie zum Beispiel relative Armut und absolute Armut definieren sollten.«

Phase 4: Unterrichtsvideos selbst drehen

In der siebten Klasse stand die Geschichtsepoche an mit den Themen »Reformation« und »Glaubenskriege«. »Das wollte ich facettenreicher machen und wie einen direkten unmittelbaren Unterricht«, so Stephanie Sell. »Also habe ich mir den Unterrichtsinhalt eingeprägt, einen ganzen Unterrichtsvortrag in die Kamera gesprochen und schließlich geschnitten.« Dabei stellte sie fest, wie oft sie sich verhaspelte, und dass dieses Vorgehen Unmengen an Zeit kostete. Außerdem waren die Filme, die dabei herauskamen, zu groß für die Cloud. So musste ein YouTube Kanal her, auf dem die Filme eingestellt wurden. Auch der Klassenlehrer der sechsten Klasse, Stefan Mach, drehte täglich ein Video, das er dann für seine Schüler in YouTube hochlud. Dazu bekamen die Schüler schriftliche Aufgaben gestellt, die ein Reflektieren und Vertiefen der Inhalte ermöglichten

Auch als es darum ging, die neu geschaffene Cloud zu nutzen, ging Stephanie Sell wieder digital vor. Sie drehte ein Erklärvideo, in dem die Schüler Schritt für Schritt gezeigt bekamen, wie sie Daten in die Cloud laden konnten.

Phase 5: Gruppengespräche im Internet

Der nächste Schritt waren gemeinsame Sitzungen über das Programm Skype, mit dem viele Menschen gleichzeitig per Videotelefonie zusammengeschaltet werden. »Hier habe ich einige Siebtklässler intensiv geschult, die haben dann in Kleingruppen die anderen in das Programm eingeführt.  Die noch ausstehenden Referate zu den Entdeckern wurden dann in Skype Konferenzen für die ganze Klasse gehalten. Die Technik war teilweise sehr frustrierend: der Ton voller Echo, manchmal kein Bild, und manche Schüler wohnten in einem der berühmten bayerischen Datenlöcher.«

Anders verlief das Angebot, per Skype freiwillige Rechen-Übestunden zu nehmen. Stephanie Sell ging über Skype life und wer wollte, konnte sich dazu schalten und Fragen zu den Aufgaben stellen. »Da waren jeweils nur wenige dabei und das hat technisch prima geklappt.«

Rückblickend sagt die Lehrerin, dass es für sie eine höchst spannende Zeit war. »Es war zugegebenermaßen sehr anstrengend bei gleichzeitig großem Spaß, den ich auch hatte. Aber ich freu mich jetzt, was ich alles gelernt habe. Ich kann drehen, Videos schneiden, einen Kanal einrichten und Filme hochladen. Ohne Corona hätte ich das nie gemacht!«


Aus den Erfahrungen während des Lockdowns hat die Schule ihre Konsequenzen gezogen und sich mit der neu installierten Bildungsplattform digital auf einen möglichen weiteren Lockdown eingestellt. Hier wurden nach hohen Datenschutzstandards Cloud, Messenger und ein Tool für Onlineunterricht zu einem Kompaktpaket geschnürt, das die Schule ganz unabhängig von Corona für die Umsetzung des entstehenden Medienkonzeptes nutzen kann. 

Schnell kamen gewiefte Schüler auf die Idee, über Werbeblöcke mit den Videos Geld zu verdienen. Dass eine Klasse mit 32 Schülern auch beim besten Willen nicht die nötige Anzahl von Klicks erzeugen kann, erbrachte dann bedauerlicherweise der Realitätscheck.


Schülerstimme

Seit Anfang der Corona-Zeit hatten wir immer zwei oder drei Tage online Unterricht. Das lief in etwa so ab, dass wir einen Link für das Meeting kurz vor Beginn zugeschickt bekommen haben und uns damit einloggen konnten. Der Unterricht fing meistens um 11 Uhr an, da sollten dann alle da sein. Frau Sell hat dann die Anwesenheit kontrolliert, dann sollten wir alle unser Mikrofon und die Kamera aus machen. Anschließend wurden dann Referate gehalten. Nach ca. 1 bis 1 1/2 Stunden war der Unterricht beendet.

Ich fand es sehr gut, dass wir somit immer die Gelegenheit hatten, nochmal was nachzufragen, was wir von den Arbeitsaufträgen nicht verstanden haben. Auch das man mit allen wieder so ein bisschen Kontakt hatte, fand ich gut. Von meinen Geschwistern (die auch auf die Waldorfschule gehen) war ich die einzige, die Unterricht erhielt. Die anderen bekamen ihre Arbeitsaufträge in die Cloud gestellt.

Lilly Meyer, Schülerin der 7. Klasse