(K)ein normaler Schultag. Hauptunterricht in Zeiten von Corona

Marius Schreiber

Corona hat überall Spuren hinterlassen und die Schüler wirken ein wenig zaghaft, als sie sich mit entsprechendem Abstand und Mund-Nasen-Schutz versehen aufreihen, um einzeln das Schulgebäude zu betreten. Die neunjährige Mathilda hat nicht viel geschlafen. Am Vorabend lag sie noch lange wach, war sehr aufgeregt und freute sich ganz besonders darauf, ihre Freundin Lisbet wiederzusehen. Nun sind die blonden Mädchen, die sich mit ihren Pagenschnitten fast wie Schwestern ähneln, wieder vereint. Nach dem Hände-Desinfizieren betreten die beiden das Foyer. Ihre Blicke schweifen umher, leerer als sonst ist es hier. Am Ende des Foyers zeugen die Kulissen der Schulbühne davon, dass die 8. Klasse während ihrer Klassenspielproben jäh von Corona überrascht wurde. Ehrfürchtig nähern sich die Mädchen einem stimmungsvoll geschmückten Tisch im Eingangsbereich. Kerzenlicht erleuchtet ein Bild der Auferstehung Christi. Das 500 Jahre alte Gemälde des Isenheimer Altars spendet Kraft und Trost, erhellt feierlich den Eintritt in die Schule, in der es so anders ist, als es die Schülerinnen gewohnt sind. Alle Schüler dürfen ein Teelicht an der Kerze entzünden und es an ihren Platz tragen.

Alles ist anders

Die 4. Klasse der Blote Vogel Schule besteht aus 32 Schülern, die aus Gründen der Hygiene auf drei Klassenräume aufgeteilt wurden. Sie sind heute die einzigen Schüler der Unter- und Mittelstufe, nur einige Oberstufenschüler befinden sich noch auf der oberen Ebene des Schulgebäudes, das sonst 13 Klassen mit gut 375 Schülern beherbergt.

In den Genuss des morgendlichen Hauptunterrichtes kommt heute früh nur die Gruppe von Mathilda und Lisbet. Die beiden anderen Gruppen werden später am Tag ihren Hauptunterricht haben und den Morgen mit dem Fachunterricht beginnen. Insgesamt fünf Lehrer betreuen heute die 4. Klasse. Sie werden Russisch und Englisch unterrichten, mit den Kindern Formen zeichnen, Geburtstage feiern, Geschichten vorlesen und Diktate schreiben. Wie immer werden sie sich bemühen, einen guten Unterricht zu machen, auch wenn die für Waldorfschulen essentiellen handwerklichen Fächer und die Bewegungskunst Eurythmie wegen der Corona-Auflagen nicht stattfinden können.

Unterrichtsbeginn

Mit Schulbeginn haben sich elf Schüler im Klassenraum eingefunden. Das Sonnenlicht fällt sanft in den in Gelbtönen gestrichenen Raum, es riecht nach Holz. Geschickt manövrieren die Schüler umeinander herum, versuchen Abstand zu halten und zupfen aufgeregt an ihren Masken.  Großzügig sind die Plätze im Raum verteilt, jedes Kind sitzt allein und auch der Mundschutz darf nun abgelegt werden. Mathilda lächelt Lisbet zu. Immerhin haben die beiden ihre Tische nebeneinander, auch wenn zwei Meter Abstand zwischen ihnen liegen. Freudig begrüßen die Schüler ihre Klassenlehrerin Elisabeth S. Die fröhliche 64-jährige, der man ihre niederbayerische Herkunft anhört, strahlt viel Ruhe aus und die Gruppe hängt sofort an ihren Lippen. »Heute vor 75 Jahren wurde der zweite Weltkrieg beendet«, berichtet sie und sofort ist die Neugierde der Schüler geweckt. Worum geht es, was ist in diesem Krieg geschehen? »Heute nicht liebe Kinder, davon erfahrt ihr mehr, wenn ihr größer seid«, beruhigt sie die Gemüter und wechselt geschickt das Thema. Eine Schülerin hat Geburtstag, ihr gebührt nun die Aufmerksamkeit. Alle Kinder singen ihr ein Ständchen und reihum darf jeder erzählen, was am Geburtstagskind besonders geschätzt wird. Es ist rührend, wie aufrichtig da die Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft, der Fleiß und Humor der Gefeierten gelobt werden. Selbst nach den langen Wochen des Nichtsehens wissen offenbar alle noch sehr genau, was sie aneinander haben.

Aus dem Rhythmus gekommen

Nach der Feierlichkeit sprechen die Kinder gemeinsam den Morgenspruch. Auch wenn sich alle sichtlich bemühen, »der Sonne liebes Licht, es hellet mir den Tag…« klingt noch ein wenig müde. Beim Flötenspiel im Freien wird es nicht besser: krumm und schief erklingen Töne, die die Kinder vor Wochen schon beherrschten. Sie sind aus dem Rhythmus gekommen und für die Lehrerin wird klar, dass eine Klasse von normalerweise 32 Kindern ganz anders miteinander funktioniert. »Als große Gemeinschaft sind wir wie ein fahrender Zug, auf den dann auch die Schüler aufspringen können, denen es etwas schwerer fällt, voranzugehen. In dieser Gruppengröße aber kann ich nicht mit den vertrauten Mitteln Schule machen«, sagt die Lehrerin. »Dass die bemitleidenswerten Kinder eine solche Situation wie die Corona-Krise erleben müssen, tut mir unglaublich leid. Wir waren viele Wochen getrennt und haben uns in Homeschooling versucht. Viele Kinder hat die Situation durchaus verunsichert und nun kommen wir uns nicht so nah, wie es wichtig wäre.« 

In diesem Sinne kommt der Zug auch weiterhin nicht in gewohnter Weise in Fahrt. Eigentlich sprechen die Viertklässler ihre Zeugnissprüche an dem Tag, an dem sie geboren sind. Nun kommen ausnahmsweise auch die Schüler zu Wort, die an einem der schulfreien Tage ihren Tag der Geburt haben. Lisbet ist auch dabei. Sehr konzentriert, mit viel Würde und ernstem Blick trägt sie ihren Spruch vor, ein Gedicht über Elisabeth von Thüringen. Sie wendet sich dabei ihrer Freundin Mathilda zu, die ihr ebenso wie alle anderen Kinder gebannt zuhört. Einer der Momente, die offenbaren, wie wichtig es den Kindern ist, wieder einander zu erleben und zusammen zu sein, statt allein für sich daheim Schule zu machen. »Schade ist nur, dass wir nicht alle sehen können«, sagt Mathilda. »Ich würde gerne auch Charlotte treffen, aber die ist in einer anderen Gruppe«. Bei der Vorstellung, dieser Zustand könnte über Monate anhalten, bleibt die Schülerin pragmatisch. Daran würde man sich wohl gewöhnen, so wie man sich eben an den täglichen Unterricht gewöhnt hat. Ob das wirklich ist, was in ihrem Innern vorgeht? Dass es in der Schule allerdings schöner sei, als allein zuhause, darüber sind sich heute alle einig. Auch Elisabeth S. betont, dass das Arbeiten mit einer kleinen Gruppe zumindest recht störungsfrei abläuft und es besser als nichts sei, wenn die Schüler wenigstens einmal in der Woche zusammenkommen. Und sie kommen gern zusammen. Hüpfend und klatschend werden die Zahlenreihen aufgefrischt und als die Lehrerin einen Gong schlägt und diesen, von Tisch zu Tisch gehend ausklingen lässt, kehrt bei den Kindern große Harmonie ein. Manche haben sich auf die Tische gelegt, andere die Augen geschlossen. Die Viertklässler genießen diesen fast meditativen Moment der Entspannung, den die Lehrerin »Himmelsmusik« nennt, ehe es ganz irdisch mit den Zahlen weiter geht.

Den Kindern Halt geben

Noch während des Homeschoolings hat eine Mathematik Epoche begonnen. Erstmals werden die Kinder mit dem Bruchrechnen konfrontiert. Die Aufgaben kamen per E-Mail. Über eine wöchentliche Videokonferenz hat die Lehrerin versucht, den Kontakt mit der Klasse aufrechtzuerhalten. »Grässlich« fand sie das, auch wenn sie positiv hervorhebt, dass es den nach dem Rubikon verunsicherten Schülern gut getan hat zu merken, dass es die Klasse als Kollektiv noch gibt.

Hätte Elisabeth S. geahnt, dass in ihrem letzten Jahr vor der Rente so etwas wie die Corona-Krise geschieht, sie wäre am liebsten schon vorher in den Ruhestand gegangen. Nun macht sie das Beste aus der Situation, denn der Lehrberuf macht ihr einfach zu viel Freude. Ihre Ausbildung hat sie in jungen Jahren an einer Grund- und Hauptschule in Bayern absolviert, ehe sie zur Waldorfpädagogik fand. Die ist ihr eine Herzensangelegenheit, aus der heraus sie Kinder mit allen Sinnen unterrichtet. Nun in einer solchen Situation lehren zu müssen, ist ihr sichtlich zuwider. Sie ist verärgert darüber, dass den Kindern so etwas angetan wird und nur ihnen zu Liebe engagiert sie sich aus vollen Kräften. Sie will den Kindern Halt geben. Den Schülern hat sie während der Homeschooling Phase viel Stoff an die Hand gegeben. Dabei war es ihr vor allem ein Anliegen, den Willen der Kinder zu stärken, damit sie an ihm Halt finden, um den Boden unter den Füßen nicht zu verlieren.

Bruchrechnen

Nun kann sie schauen, was in Heimarbeit während der Betreuung durch die Eltern bereits gelernt wurde und es ist erstaunlich, wie viele am heutigen Tag mit einigen Grundkenntnissen glänzen. Auch Lisbet und Mathilda wissen bereits, dass sich Brüche kürzen lassen. Aufmerksam und konzentriert folgen die Schüler den Ausführungen der Lehrerin. Sie wiegt bunte Holzklötzchen hin und her, stapelt sie auf Lisbets Tisch und macht aus sechs Neunteln ordentliche zwei Drittel. Mit Händen und Füßen wird hier unterrichtet, alle begreifen es im wahrsten Sinne des Wortes. Reihum werden Brüche gekürzt und sogar der schläfrige Schüler in der hinteren Ecke ist plötzlich anwesend und hat eine Antwort parat. Die Lust zu rechnen und zu lernen liegt spürbar im Raum und selbst als die Lehrerin zum Abschluss des Hauptunterrichtes aus den Nibelungen erzählt, rechnen die Kinder währenddessen fleißig in ihren Heften weiter. Eindrucksvoll und frei erzählt sie von Kriemhilds Hochzeit mit dem König Etzel. Eine wohlige Atmosphäre ist entstanden und für einen kurzen Moment fühlt es sich für alle so an, als sei es doch ein ganz normaler Schultag.

Hoffentlich nur eine kurze Phase

Als der Unterricht vorbei ist, bleibt der gewohnte Klingelton aus. Der Hausmeister hat ihn abgestellt, denn er passt nicht zur Struktur des verkürzten Notunterrichtes. So ist der ausbleibende Glockenton stummer Zeuge dafür, dass dies kein normaler Schultag ist. Bevor es nach draußen geht, verteilt das Geburtstagskind Süßspeisen. Kurz wollen alle zur Ausgabe stürzen, ehe sie sich der gebotenen Hygienevorschriften besinnen. Mit reichlich Abstand gehen sie auf ein für sie abgetrenntes Stück Pausenhof und die surreale Stimmung der Corona-Krise hat alle wieder eingeholt. Während für Lisbet, Mathilda und ihre Mitschüler nach der Pause der Russischunterricht beginnt, wird Elisabeth S. erneut mit dem Hauptunterricht und der nächsten Gruppe beginnen und versuchen, soviel Alltag wie möglich an einem nicht sonderlich alltäglichen Schultag zu vermitteln. »Waldorfschule funktioniert durch den Rhythmus, die Dauer und die Beziehung und aller drei Faktoren sind wir derzeit beraubt«, stellt Elisabeth S. nachdenklich fest. Es bleibt zu wünschen, dass dieser wöchentliche Krisen-Unterricht nur eine kurze Phase ist und Lehrer wie Schüler bald wieder im gewohnten Maße zur Schule gehen können.