Vom Katastrophenmodus der Politik zum risikostratifizierten Handeln

EK: Herr Matthes, wie erlebten Sie das Covid-19-Geschehen im Krankenhaus-Alltag seit Beginn der Pandemie und wie sah die konkrete Situation vor Ort aus? 

Harald Matthes: Der Anfang der Coronapandemie war durch größte Verunsicherung der Bevölkerung, wie auch der Ärzte gekennzeichnet, so dass ein Mangel an Konsultationsmöglichkeiten in der ambulanten Medizin bestand und die Kliniken mit sogenannten Coronaambulanzen einen extremen Zulauf, aber auch Dankbarkeit erfuhren. Zu gleicher Zeit wurden starke Anstrengungen unternommen, die Intensivkapazitäten zu erhöhen, so dass auch wir bis auf 49 Beatmungsplätze aufstockten. Diese Kapazitäten wurden glücklicherweise nie gebraucht. Die intensivpflichtigen Coronapatienten waren jedoch aufgrund schwerer Verläufe mit langer künstlicher Beatmung, Herz-Kreislaufversagen medizinisch sehr aufwändig zu versorgen und erforderten eine hohe Expertise. Im Gegensatz dazu war das übrige medizinische Geschehen deutlich heruntergefahren, insbesondere die elektiven Operationen – das sind Operationen, die nicht sofort durchgeführt werden müssen so dass die Krankenhäuser einen eher ruhigen Frühling und Sommer hatten. Derzeit steigen die stationären Behandlungsfälle mit Coronaerkrankten wieder etwas an.

EK: Welches Motiv hatte die Havelhöhe, eine Corona-Ambulanz einzurichten?

HM: Corona führte in der Öffentlichkeit anfänglich zu viel Angst. Dieser kann nur durch konkrete Anschauung entgegengetreten werden. Daher haben wir uns als Krankenhaus entschlossen, Covid-19 Schwerpunkthaus in Berlin zu werden, um aus eigener Anschauung urteilen zu können. Ohne reale Anschauung sehen wir derzeit die gesellschaftliche Angst in den Köpfen mit medial gesteuerten Bildern als Kopfkino, ohne jeglichen Realitätsabgleich. Die Politik handelt abstrakt und im Katastrophenmodus statt risikostratifiziert (1) angemessen zu reagieren. Einer globalen Pandemie wird derzeit sogar mit Kleinstaatendenken zu begegnen versucht und auf Landkreis und Bezirksebene nunmehr Reisebeschränkungen verhängt.

EK: Können Sie etwas zu Tests und Infektionszahlen sagen? Wie verhält es sich mit der Fehlerrate?

HM: Das Problem der molekularen PCR-Testungen ist nicht die Fehlerrate von ca. 0,4 bis max. 1 % durch Testfehler, auch nicht falsche Abnahmebedingungen, sondern deren Bewertung. Ein positiver PCR Test und deren ct-Wert (cycle threshold) sagt etwas über die Viruslast aus, wenig über Infektiosität und gar nichts über die klinisch relevante Frage der Erkrankung. Mindestens 80% mit positiven Covid-19 Test haben keine oder nur sehr geringe klinische Symptome. 4-6% in Deutschland erkranken schwerer und nur 0,3-0,8% sterben an einer Covid-19 Erkrankung (Zahlen aus Metaanalysen für Deutschland). Es interessieren nicht Infektionszahlen, sondern Erkrankungen und ihre Schwere. Wenn derzeit sehr viel getestet wird, ist entscheidend, wie viele der Getesteten erkrankt oder gar schwer erkrankt sind. 4000 Covid-19 positiv getestete junge Menschen sind kaum ein medizinisches Problem, wären diese über 75 Jahre alt, wäre das vollständig anders zu bewerten. Das Risiko steigt mit dem Alter und den Risikofaktoren Herzerkrankung, metabolisches Syndrom, Zuckererkrankung und weiteren Organvorschädigungen sowie Immundefekten oder medikamentöser Immunsuppression. Liegt die Mortalität bei Kindern nahezu bei 0, so steigt sie mit Alter und Risikofaktoren bis auf 7-8 % bei über 75-Jährigen. Große Unterschiede der Mortalität in Deutschland zu anderen Ländern liegen im Gesundheitssystem begründet. Deutschland verfügt über weit mehr Intensivbetten als jedes andere Land der Welt und auch die Ausstattung mit modernsten Geräten ist exzellent. Die höchste Auslastung der Covid-19 Patienten im Frühjahr lag bei 15 %, so dass eine Kapazitätsauslastung oder gar Überlastung in Deutschland nie ernsthaft bevorstand. Derzeit sind es ca. 500 Covid-19 Patienten auf Intensivstation (10.10.2020) bei 30.255 Intensivbetten mit einer Reservekapazität von weiteren 12.156 Betten (entspricht 1,19 % Auslastung).

EK: Wie haben Sie therapiert? Gibt es spezifisch anthroposophische Ansätze – mit welchem Erfolg?

HM: Es gibt bisher kein spezifisches Covid-19 Medikament aus der konventionellen Medizin. Remdesivir führt in Studien zu keinem signifikant verbesserten Überleben, sondern lediglich zu einer milden Symptomreduktion. Die anfänglich große Studie vor allem an Universitätskliniken mit Hydrochloroquin und Azithromycin erbrachte sogar eine Steigerung der Todesrate. Daher haben anthroposophische Therapiekonzepte mit Steigerung der Selbstheilungskräfte eine große Bedeutung erfahren. Wichtige anthroposophische Arzneimittel waren dabei das Eisen als Meteoreisen oder als Ferrum metallicum praep., der Phosphor, das Stibium sowie das Cardiodoron® und Pneumodoron®, aber auch Bryonia (Zaunrübe) und Tartarus stibiatus (Brechweinstein). Die Erfolge waren sehr gut, da in Havelhöhe bisher kein Covid-19 Patient verstorben ist, bei einer sonstigen Sterblichkeit von ca. 30% aller Covid-19-Intensivpatienten.

EK: Viele Menschen leben in der Angst vor weiteren Wellen oder einem Dauerzustand. Was ist Ihre Prognose?

HM: Die Nachweiszahlen für Covid-19 werden diesen Herbst und Winter erneut stark ansteigen. Dennoch werden wir in Deutschland nicht an die Kapazitätsgrenzen des Gesundheitssystems stoßen, sehr wohl aber an die der Gesundheitsämter und Infektionsnachverfolgung. Entscheidend ist derzeit, dass wir wegkommen von dem Katastrophenmanagement unter Notstandsgesetzgebung (epidemiologische Lage von nationalem Ausmaß), zu einem Risikomanagement. Das bedeutet aber auch, dass nicht nur ein Grenzwert von 50 Neuinfektionen auf 100.000 Einwohner als Risikogrenzwert oder der R-Wert gilt, sondern klinisch relevante Parameter, wie Altersverteilung, Erkrankte und Schwere der Erkrankung, sowie Auslastung der Krankenhaus- und Intensivkapazitäten. Bei der komplexen Risikobeurteilung sind ein oder zwei Werte, insbesondere wenn sie nicht die Realität der Erkrankungen abbilden, kein Wert.

EK: Das gesamte menschliche und gesellschaftliche Leben ist von dieser viralen Bedrohung betroffen. Welche Perspektiven eröffnet ein ganzheitlicher anthropo­sophischer Ansatz und welche innere Haltung nehmen Sie als behandelnder Arzt und Wissenschaftler ein?

HM: Die Covid-19 Infektion ist eine Zoonose, also eine vom Tier auf den Menschen übergegangene Infektion. Dies weist auf ökologische Schäden und Reduktion einer Diversität in der Natur hin. Massentierhaltung mit hohem Antibiotikaeinsatz und Raubbau an der Natur sind die Ursache der zunehmenden Zoonosen in den letzten Jahrzehnten (Vogelgrippe, MERS, Ebola etc.). Nicht nur der Mensch ist ein umfassendes mehrdimensionales Wesen (Leib, Seele und Geist), sondern auch die Erde. Würdiger Umgang mit Mensch und Natur ist im tieferen Sinne nur möglich, wenn ein wirkender Geist in Mensch und Natur erlebt und real erfahren wird. Die Anthroposophische Medizin und die biologisch-dynamische Landwirtschaft leben und handeln seit über 100 Jahren nach diesem Prinzip. Humanismus, Nachhaltigkeit und Gemeinwohl sind ethische Grundlage seit nunmehr hundert Jahren. Die Chance, nun in Deutschland die Covid-19 bedingten Wirtschaftsinvestitionen von 1,3 Billionen Euro für einen überfälligen Umbau der Wirtschaft und Landwirtschaft sowie der Medizin zu nutzen, wird derzeit von der Politik verschlafen.

EK: COViD-19 ist nicht nur eine Belastung für den konkret erkrankten Menschen, sondern auch für die gesamte Gesellschaft. Was macht den einzelnen Menschen und die Gesellschaft resilient?

HM: 100 Jahre Bazillentheorie und die Dominanz eines pathogenetischen Medizinkonzeptes haben zu der von Rudolf Steiner bereits 1909 vorausgesagten Tyrannei im Sozialen geführt. Der Mensch hat ein Mikrobiom und Virom, das unverzichtbar für seine Immunität ist und von der Quantität mächtiger als der Mensch selbst (Mikrobiom 1014 Bakterien mit ca. 1200 Spezies z.B. im Darm bei nur 1012 Körperzellen). Bewusstsein des salutogenen Potentials im Menschen führt aus der Opferrolle gegenüber Bakterien hin zu einem Lebensbewusstsein, das akzeptiert, dass der Mensch in ökologischer Harmonie mit seiner Umwelt und Natur leben muss.

Corona polarisiert derzeit die Gesellschaft im Sozialen. Die »Richtigmacher« stehen den »Leugnern« immer unversöhnlicher gegenüber. Corona attackiert die Mitte des Menschen, Atmung und Herz-Kreislauf. Die soziale Antwort müssen Herzenskräfte des Verstehens sein, die wir gegenüber dem anderen Menschen und der Natur aufbringen. Handeln, das auf Achtsamkeit basiert, ist notwendiger denn je. Ein risikostratifizierter angemessener Umgang mit der Pandemie ist nur durch verstehende Herzenskräfte möglich.

EK: Was denken Sie über die Hygiene- und Präventionsmaßnahmen an Schulen?

HM: Die Politik behandelt Schüler und Alte gleichermaßen im Katastrophenmodus, was völlig unangemessen ist, da das Covid-19 Erkrankungsrisiko bei Kindern von annähernd Null einem Sterberisiko bei polymorbiden älteren Menschen von 8% gegenübersteht. Dies führt derzeit schon zu Fehlversorgungen, so dass die Covid-19 Tests vor allem bei Lehrern anstatt bei Altenpflegern vorgenommen werden. Bei einer Region als Risikogebiet mit 50 Infizierten auf 100.000 kann nur jeder zweitausendste Abstrich positiv sein. Dies verhindert eine risikostratifizierte Diagnostik in der Bevölkerung und damit wirkliche Risikoreduktion für die gefährdeten Personenkreise. Strategieloses Testen blockiert Testkapazitäten und verhindert damit ein differenziertes und anhand von Risikofaktoren bestimmtes Vorgehen. Flächendesinfektion in Schulen erinnert an die Sünden der 1980er Jahre in Krankenhäusern, die hochresistente Keime herangezüchtet hat, da die ortsständige Mikroflora zerstört wurde. Von einer wissenschaftlich fundierten und sozial angemessenen wie abgewogenen Risikostratifizierung besonders für Schulen ist die Politik derzeit in Deutschland weit entfernt. Autoritäres Notstandsverordnen geht vor Aufklärung, Transparenz und vor allem persönlicher Verantwortungsübernahme mit Beachtung der jeweiligen Risikofaktoren und deren angemessener Reduktion. Völlig fehlt der Gedanke für salutogenetische und resilienzsteigernde Maßnahmen. Bedarf es eher einer körperlichen als einer sozialen Distanzierung, so sollte in den Schulen gerade auch durch den Digitalisierungsschub ein seelisch nährendes und warmes soziales Herzensklima als aktive Antwort gegeben werden.

Anmerkung:

Risikostratifizierung heißt, durch Abschätzen und Bewerten der Risikofaktoren (für Covid-19) das medizinische Handeln individuell zu bestimmen. Dabei wird das Individuum im Kontext seines sozialen Umfeldes bewertet.